Dae - Mutter
Panorama: Best of the Rest
Regie:Stole Popov
16 min, Jugoslawien 1979
babylon berlin:mitte, Di, 31.07.113229 um 00:00 Uhr
Nickelodeon, Sa, 31.03.113274 um 00:00 Uhr
Die Mutter der Romafilme. Kultfilm aus den 70gern. (Gewinner Oberhausen 79, Oscar-nominiert)


Als „Profi“ sieht man die meisten Filme mit dem Verstand.
Aha, dieser Bildwinkel, jener Schritt, die Technik wie bei Regisseur X,
eine Sequenz wie bei Y. Wie funktioniert der dramaturgische Aufbau?
Wie entsprechen sich Inhalt und Form? Welche Funktion hat der Ton? usw. usw.
Film als etwas Rationelles, zu Sezierendes, Erklär- und Deutbares.
Dann taucht plötzlich ein Film auf der Leinwand auf, der alles Denken überflüssig zu machen scheint, eine Bilderflut ergießt sich auf die Netzhaut,
es rieselt einem den Rücken herab und man fühlt sich begeistert.
Ja, man fühlt den Film buchstäblich, ist überwältigt, geschockt oder enthusiastisch.
Ein solcher Film war für mich DAE und ist es auch nach viermaligem Anschauen noch.
16 Minuten lang schwebten erlesene, atmosphärische Bilder über die Leinwand.



Schmutz, Verwesung, Armut, Freude, Begeisterungstaumel, Extase, Alltag und Fest, alles gleichzeitig und doch wie aus einem Guß, ohne Brüche.
Eine Alte mit gegerbtem Gesicht, die vor sich hin pafft; ein junges Mädchen,
völlig hingegeben an den Rhythmus, in dem sie mit ihren nackten Füßen auf dem staubigen Erdboden tanzt; ein Liebespaar,
das sich vor aller Augen liebt auf dem Platz zwischen den Zelten;
Menschen, verzückt im Gebet versunken;
eine Männergruppe in flehender Bitt-Gebärde an den Himmel,
die Geburt möge glücklich verlaufen.



16 Minuten lang sah ich Menschen, die sich selbst darstellten, nicht nur eine Rolle spielten wie in anderen, auch dokumentarischen Filmen.
16 Minuten ohne einen gesprochenen Kommentar, die Bilder sprachen für sich.
Auch das eine Rarität im Film. Ein spartanischer Originalton mit drei Akzenten,
den Schreien einer Frau in den Geburtswehen, eine Zigeuner-Tanzweise,
ein Singsang des Gebetes. Zum Schluß dann eine elektronische Melodie,
die sich völlig harmonisch einfügt in die folkloristischen Elemente,
die vorher zu hören waren: für mich der erstaunlichste, verblüffendste Zug des Films,
der ihn noch weiter abhebt, in Schwebe hält und das Gefühl vermittelt,
weiter, endlos weiter hören und sehen zu wollen.

Ich habe in Oberhausen zugegebenermaßen auch Kritik an DAE gehört. Sicher ist der Film nicht „purer“ Dokumentarfilm, hat Stole Popov die Darsteller angeordnet.
Aber von einem manieristischen Schnitzer zu Beginn abgesehen,
als die Männer im Stop-Trick sich zum Gebet aufreihen,
fügen sich die Arrangements bruchlos in die Form ein.
Die Zigeuner spielen sich selbst, nicht ein Bild,
das der Zuschauer vom Zigeuner hat (was man übrigens meiner Meinung nach deutlich in den Pferde-Szenen erkennt: auch jugoslawische Zigeuner haben Western Marke Hollywood gesehen).
Und schließlich: hat nicht auch Flaherty in ARAN und NANOOK inszeniert und arrangiert, ohne daß dadurch diese Filme unwichtig, unecht, nicht authentisch sind?

Sicher ist DAE sehr schön fotografiert. Die Welt von Marlboro und Peter Stuyvesant konnte ich aber nicht entdecken. Auch in Gegenlicht und mit leuchtenden Farben abgebildeter Schmutz und Dreck bleibt Schmutz und Dreck,
ja wirkt vielleicht noch brutaler im Kontrast. Und schließlich:
Jugoslawische Filme fallen durchweg durch ihre brillanten Farben und ästhetischen Bilder auf (aber wer alljährlich aufs neue in Oberhausen
die irrwitzigen Podiumsdiskussionen mit Pavel Schnabel erlebt,
dem stets aufs neue vorgeworfen wird, seine Filme seien für ihren politischen Gehalt zu ästhetisch, den verwundert nichts mehr). Sicher, außer mit Eskimos
habe ich mich nie eingehend mit einer ethnischen Gruppe beschäftigt,
weiß folglich wenig über Zigeuner und habe auch bis heute
nicht in Erfahrung bringen können, was DAE heißt.

Aber ist das wichtig zur Deutung oder zum Verständnis des Films?
Ich habe ihn inhaltlich als einen Tag aus dem Leben einer Zigeunergruppe verstanden,
der geprägt ist durch die Geburt eines Babies: die Beschwörungen zur Geburt,
die Geburt im „off“, die Feier, das festliche Verbrennen des Geburtszeltes,
das rituelle Bad, eine angedeutete zeremonielle Entführung des Vaters (?),
ein gemeinsames Dankgebet. Wichtiger aber ist wohl eine andere Erkenntnis,
die man aus dem Film ziehen kann: daß es noch heute Menschen mitten in Europa gibt, die sich nicht der christlich-abendländischen Tradition angepaßt haben,
weder deren kapitalistischem noch sozialistischem Zweig.
Menschen, die offensichtlich stolz auf Ihr Anderssein sind,
die keine Anzeichen dafür bieten, diesen Zustand ändern zu wollen.

Daß dieser Aspekt, der nichts mit Romantik und Weltflucht zu tun hat,
so deutlich wurde und damit wohl auch einen wesentlichen Aspekt für den Preisgewinn darstellte, lag an der Programmierung hinter dem tschechoslowakischen Beitrag
EIN WEISSER WEG FÜHRT AUS DER ZIGEUNERSIEDLUNG.
Dieser Film preist in höchsten Tönen den perversen Zustand von Zigeunern,
die, mit Schlips und Anzug im Eigenheim, endlich nützliche Mitglieder des Sozialismus geworden sind. Selbstverständlich preist ein Zigeuner selbst die neuen Errungenschaften und blickt verächtlich auf die Jahrhunderte alte Kultur und Lebensweise seines Volkes zurück. So kennen wir das Problem der von Engländern und Amerikanern „zivilisierten“ Völker, und so haben wir es auch oft im Film in Oberhausen gesehen, zuletzt über die Kurden.
Neben diesem zutiefst humanitären Zug des Respekts vor einem kulturellen Anderssein ist DAE ein ausgezeichneter Spiegel für politischen Willen und politische Realität in Jugoslawien.
Selten ist mir so deutlich wie in den 16 Minuten von DAE geworden, daß dies Land ein Vielvölkerstaat ist, der nur so lange existieren wird, wie die unterschiedlichen Völker und ethnischen Gruppen einander respektieren und akzeptieren.
Den Willen dazu dokumentiert der Film.
Er fügt sich damit, trotz aller Unterschiede in Form und Machart,
nahtlos an die LITANEI DER HEITEREN LEUTE an,
der 1971 in Oberhausen einen Hauptpreis erhielt.

Bericht 25. Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen 1979 © Ingo Petzke 1979


Directed by Stole Popov, this 16-minute film is an extract from the Gypsies' way of life, dedicated to the celebration of the "St. George's Day" holiday. The theme of the film deals with the contrasts of the contemporary urban processes. Also, the film expresses a many-sided iconography as a source for incarnation of the romantic comprehension of life with no obstacles. The balladic atmosphere conjures up the reminiscences of the distant myths. This poetic vision on the life of the last nomads is shot in the authentic milieu of Gypsies' camp shortly before the celebration of their greatest holiday. Aatavistic characteristics of their beliefs are: the ritual bathing, as a symbol of body and soul purifying; then, the mystery of childbirth and the desire for life without restraints. All these attack the audience's senses, never leaving them indifferent.