Homepage des Balkan Black Box Festivals 2002 - Dies ist die "No-Frame" Version. Zum Programm geht's hier
Der Balkan ist ganz anders
"Balkan [türk. >Gebirge<], bulg. Stara planina, im Alterum Haemus, Gebirgszug in SO-Europa (im Betew. 2376 m), 600 km lang, 21-45 km breit. Der B., ein junges teritiäres Faltengebirge, verläuft in parallelen Ketten in einem nach N. offenen Bogen von der Donau unterhalb des eisernen Tores bis zum Schwarzen Meer"
Brockhaus 1988
"Black Box [blaeck boks, engl. >schwarzer Kasten<] die Wissenschaftsmethodik; kybernet. System (Technik, Informationsverarbeitung, sozialwiss., Biologie), dessen innnerer Aufbau unbekannt oder im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung unerheblich ist (Black Box Methode)"
Brockhaus 1988
Balkan - das ist ein Klischee. Merkwürdige Völker mit jahrhundertealten Animositäten, Kriege, deren Hintergründe schwer oder gar nicht verständlich sind - das ist seine eine Seite. Auf deren anderen stehen Ćevapčići, Šlivovica und Zigeunermusik, ebenfalls unverständliche, exotische Dinge also, die man sich jedoch durchaus nicht nur als Billigtourist, sondern auch als gebilderter Westeuropäer gefallen lassen darf: In den Büchern Ivo Andrićs, der Musik Goran Bregovićs, auf Konzerten bulgarischer Chöre und in den Filmen Emir Kustoricas. Amen.
Amen? Vor vier Jahren hat machte sich eine Gruppe von Berliner Jugovići (Gastarbeiterkindern), Flüchtlingen, Antikriegsfreiwilligen und anderen Menschen, die aus ganz verschiedenen Gründen biographisch mit dem Balkan verbunden sind daran, ihren Mitbürgern einen ganz anderen Balkan zu zeigen. Das erste Balkan Black Box Berlin Festival brachte Film, Literatur, Performance und Musik aus Ex-Jugoslawien, die niemand mit diesem Teil Europas in Verbindung bringen würde.
Trash, Noise, Avantgarde, Techno aus Zagreb, Sarajevo, Mostar und Belgrad - der andere Balkan kam gut an im Jahr des Kosovo-Krieges. Zusätzlich zum Kulturprogramm stampfte das Balkan Black Box-Team zeitgleich zu den damaligen NATO-Bombardierungen Jugoslawiens aktuelle Podiumsdiskussionen aus dem Boden, bei denen nicht nur die Meinungen hart aufeinanderprallten. Es zeigte sich auch, dass das Balkan Black Box Berlin-Netzwerk bereits damals eine Menge Wissen vereinte - Wissen über den konkreten Balkan, das in der auf Klischees basierenden Mainstream-Diskussion nicht vorkam und bis heute nicht vorkommt.
Auch auf den Balkan Black Box Festivals 2000 und 2001 setzten die Organisatoren den Schwerpunkt auf den anderen Balkan. Aber auch vordergründig dem Klischee entsprechendes bekam Raum: Das (Roma-) Orkestar Fejad Sejdić wurde mit seiner Trubačimusik im vergangenen Jahr gar zum wandelnden Maskottchen und Schmuckstück des Festivals.
Trotzdem will Balkan Black Box Berlin 2002 tendenziell eher zurück zur Realität. Die Headliner im Programmteil MUSIK von B4, der Sänger und Gitarrist Rambo Amadeus aus Serbien/Montenegro und das Performance - und Soundsystemteam Alternativa Nova aus Bosnien stehen symptomatisch für den anderen Balkan: Sie haben mit unverständlichem Orient und Untza-Untza wenig zu tun - aber dafür viel mit den ganz realen Härten eines Lebens am Rande Europas.
Auch LITERATUR vom Balkan wird in diesem Jahr wieder ein Herzstück des Festivals sein. Junge Autoren aus Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegovina und Serbien werden einerseits zeigen, wie unterschiedlich die Literaturen der Balkanländer sind - und andererseits belegen, dass sie gerade deshalb ein übergreifendes und sich verstehendes Literaturumfeld bilden. Neben den verschiedenen Ausdrucksformen - Lesung, Performance, Diskussion - werden die Schriftsteller die Frage beleuchten, in wieweit es trotz des Zerfalls Jugoslawiens auch heute noch eine gemeinsame kulturelle Identität und Sprache gibt, die Künstler und Publikum verbindet. Das schließt natürlich auch die Frage ein, was die Ex-Jugoslawen heute trennt - innerhalb ihres ehemaligen Landes und hier im "Exil".
Ein weiterer Schwerpunkt von Balkan Black Box 2002 wird eine umfangreiche Sektion mit FILMPRODUKTIONEN der letzten Jahre sein. Neben unabhängigen und Lowbudget-Produktionen im Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilmbereich werden auch ein paar Großproduktionen aus dem ehemaligen Jugoslawien vorgestellt. Wenn alles klappt wie geplant, wird es auch wieder eine Retrospektive eines wichtigen (ex-) jugoslawischen Regisseurs geben. Das genaue Programm wird Ende August/Anfang September an dieser Stelle bekannt gegeben.
Einer der wichtigsten Ansätze der balkan black box Forschung waren und sind weiterhin PODIUMSDISKUSSIONEN und FOREN. Als Ergänzung zur radikal-subjektiven Sicht, die Künstler in ihren Produktionen vermitteln, bilden Podien und Diskussionen eine inhaltliche Klammer, die die einzelnen Gäste des Festivals zusammenbringt. Nicht weniger subjektiv als die Kunst selbst, werden auch in diesem Jahr übergreifende Fragen diskutiert: sei es die Frage nach einer metaphorisch 'gemeinsamen Sprache' (Literatur) oder die Hinterfragung der uns im letzten Jahrzehnt durch Medien und Politik vermittelten Balkansaga (Yugoslavia -- the avoidable war). Letzlich wird versucht, mit einem Regisseur-Gespräch im Rahmen der Retrospektive an das große Interesse des vergangenen Jahres (Želimir Žilnik Retrospektive) anzuknüpfen.
Salz in der Suppe des balkan black box festivals sind gewollte, spontane und unplanbare Begegnungen. Sei es der traditionelle Sonntags-Festivalbrunch, Partys, balkanisches Cafe-hopping -- diese Gelegenheiten waren bereits wiederholt der Beginn wunderbarer Freundschaften und Kooperationen.
Balkan Black Box Berlin wird 2002 nicht nur erneut den Beweis liefern, dass der Balkan anders ist. Berliner Balkanier und balkanische Berliner werden zusammen auf ganz verschiedene Weise den Umbrüche im ehemaligen Jugoslawien und deren Wirkung auf Identitäten dort auf den Grund gehen - im Bewußtsein dafür, dass der Balkan nicht etwa hunderte oder tausende Kilometer entfernt liegt, sondern auch hier in unserer Stadt seine Orte hat. Und das folglich nichts dort passiert, was nicht hier seine Wirkung hätte. Und umgedreht. Oder kürzer:
Der Balkan sind wir.